Die gläubige Rentnerin Pilar verbringt ihre Zeit damit, Gutes zu tun und anderen zu helfen. So sorgt sie auch um ihre einsame Nachbarin Aurora, eine exzentrische achtzigjährige Dame. Während sich Pilar ihrem katholischen Glauben widmet, verspielt Aurora ihr letztes Geld im Casino und verdächtigt ihre kapverdische Haushälterin Santa, sie mit Voodoo zu verhexen. Als Aurora im Sterben liegt, sucht Pilar auf ihren Wunsch hin einen gewissen Gian Luca Ventura. Sie findet ihn im Altersheim, und wie sich herausstellt, verbindet ihn mit Aurora eine Geschichte, die fünfzig Jahre zurückliegt, in der Zeit kurz vor Ausbruch des portugiesischen Kolonialkrieges.
Regisseur Miguel Gomes über "Tabu" (Auszug, Quelle: Real Fiction Filmverleih):
Was war der Ausgangspunkt für den Film?
Jemand aus meiner Familie hat viel mit der Figur der Pilar gemein, eine Tante, die nie verheiratet war, praktizierende Katholikin ist, gern ins Kino geht (sie hat mich immer mitgenommen, als ich noch klein war) und sich in zig sozialen Projekten engagiert. Sie hat mir von ihrer senilen und ein wenig paranoiden Nachbarin erzählt, die regelmäßig bei ihr auf der Matte stand und behauptete, ihre Haushälterin würde sie nachts in ihrem Zimmer einsperren und überhaupt schlecht behandeln, wofür sie aber keinerlei Beweise hatte. Ich begann, mich für diese drei Charaktere zu interessieren, drei einsame ältere Damen, die ihre Schrullen und Eigenarten haben und dabei im Grunde ganz gewöhnliche Frauen sind, die jeder von uns kennen könnte. Frauen, über die normalerweise keine Filme gemacht werden.
Wie kamst du auf die Idee, den zweiten Teil als Stummfilm zu drehen?
Ich weiß nicht, ob man da von Stummfilm sprechen kann. Es gibt keinen Dialog, das ist richtig, dafür aber eine Off-Stimme, die die Ereignisse schildert und die Briefe von Ventura und Aurora vorliest. Jemand erzählt eine Geschichte und wir hören zu. Zwischen Venturas Erinnerungen und den Bildern, die sich Pilar und Santa dazu vorstellen, bleibt kein Raum für Dialog. Als wären die Worte, die einst gesprochen wurden, im Laufe der Zeit verloren gegangen. Das war mit ein Grund, weshalb ich mich für die Ästhetik des Stummfilms entschieden habe (oder von Super 8, der privaten, einfachen Variante). Ich wollte keinen modernen Pastiche des Stummfilms schaffen, sondern auf andere Weise ein wenig von seinem Wesen und seiner Schönheit einfangen. Oder es wenigstens versuchen ...
Drückt sich darin auch die Sehnsucht nach einem verloren gegangenen Kino aus?
TABU – EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND SCHULD ist ein Film über die Vergänglichkeit, darüber, dass Dinge verschwinden und nur noch als Erinnerung, als Phantasmagorie, als Bilder in unserem Kopf existieren – oder eben als Film, da haben wir alles auf einmal. In TABU – EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND SCHULD gibt es einen großen Zeitsprung. Wir gehen fünfzig Jahre zurück, vom Alter zur Jugend, von einer Zeit der Katerstimmung in eine Zeit der Exzesse, von einer postkolonialen Gesellschaft in den Kolonialismus. Es geht um Dinge, die erloschen sind: einen Menschen, der stirbt, eine Gesellschaft, die sich verändert hat, eine Zeit, die nur in der Erinnerung derjenigen fortbesteht, die sie erlebt haben. Und das wollte ich auch durch die Wahl des Filmmaterials ausdrücken, deswegen haben wir in Schwarzweiß gedreht – den Teil, der in der Gegenwart spielt, auf 35 mm, und die Afrika-Geschichte auf 16 mm. Viele wollten wissen, warum der erste Teil nicht in Farbe ist, weil man die Vergangenheit ja eher mit Schwarzweiß und die Gegenwart mit Farbe in Verbindung bringt (warum eigentlich?). Aber ich denke, nicht nur der zweite, auch der erste Teil besitzt eine historische Komponente.
Wie wichtig war Murnaus Werk für TABU – EINE GESCHICHTE VON LIEBE UND SCHULD? Und welche Filme haben dich sonst noch inspiriert?
Um Murnaus Werk kommt man als Regisseur nicht herum, es ist wegweisend. Ansonsten lasse ich mich von vielen Filmen inspirieren – ebenso wie von Geschichten, die ich irgendwo aufschnappe, wie in diesem Fall –aber ich habe ein schlechtes Gedächtnis und vermische die Filme immer im Kopf. Dagegen erinnere ich mich genau an die Empfindung, das Gefühl, das ein Film bei mir hinterlässt. Aber ich arbeite nicht mit expliziten Zitaten. Am nächsten fühle ich mich dem klassischen amerikanischen Kino.
Welche Rolle spielt die Kolonialzeit heute in Lissabon?
Das, meine lieben Freunde, ist eine soziologische Frage, auf die es keine kurze Antwort gibt. Der Krieg zwischen Portugal und seinen ehemaligen Kolonien (Angola, Mosambik, Guinea- Bissau, Kap Verde) begann Anfang der Sechzigerjahre und endete erst 1974, mit der Unabhängigkeitserklärung dieser Länder und der Nelkenrevolution am 25. April. Das Ganze ist also in der Geschichte Portugals noch sehr präsent. Damals kehrten Tausende in ihre Heimat zurück, auch meine Mutter, die in Angola geboren wurde und in den Sechzigern nach Lissabon kam, um zu studieren. Aber wie gesagt, ich wollte mit der Zweiteilung weniger den Kolonialismus thematisieren, sondern dem Film vielmehr eine abstrakte Komponente hinzufügen und von diesem unbestimmten Gefühl des Verlusts und der Schuld in eine Zeit der Exzesse, Brutalität und der Torheit zurückgehen (der emotionalen, sozialen und politischen Torheit). Ich wollte, dass die Melancholie des ersten Teils die Euphorie des zweiten vergiftet. Die Bilder und Geschehnisse im „Paradies“ (das nie eins gewesen ist, für diejenigen, denen die Ironie entgangen ist) kommen aus einem „verlorenen Paradies“.
Presse:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/tabu-eine-geschichte-von-liebe-und-schuld.1216.de.html?dram:article_id=231522
"An impressively dense yet fleeting concatenation of doomed love, colonial guilt, a reflection on the changing aesthetics and characteristics of cinema"
Mark Peranson, Cinema Scope