Ein Sommertag in der KZ-Gedenkstätte. Unablässig fotografieren Touristen. Mal mit, mal ohne Selfie-Stick. Die Gedenkstätte ist gut besucht, groß der Strom der Touristen. Schickt es sich, vor „Arbeit macht frei“ zu posen? Oder fürs Foto mal eben so tun, als sei man zur Folter aufgehängt, am authentischen Ort (wobei die hölzernen Marterpfähle nachgebildet wurden)? Sollten Eltern ihre Kinder im Grundschulalter hier durchschleusen, als wäre es irgendein x-beliebiges Freiluftmuseum? Wie vertragen sich ein lässiges Jurassic-Park-T-Shirt oder ein Top mit großflächigem Totenkopf-Dekor mit der Würde des Ortes? Sind KZ-Gedenkstätten Touristenattraktionen wie alle anderen?
Regisseur Sergey Loznitsa stellt diese Fragen nicht explizit, er verzichtet auf jedweden gesprochenen Kommentar, er befragt auch niemanden. Manchmal sind Erklärungen der Touristenführer zu hören.
In AUSTERLITZ werden die Zuschauer des Films zu stillen Beobachtern, allein mit ihren Gedanken. Der Titel des Films verweist auf den der Erinnerung an den Holocaust gewidmenten Roman des Schriftstellers W.G. Sebald. (Mit der Schlacht von Austerlitz, heute Slavkov u Brna in Tschechien, hat der Titel nichts zu tun.)
Sergey Loznitsa montierte seinen 94minütigen Film so, als wäre er an einem einzigen Tag gedreht. Es handelt sich dabei jedoch um einen Verdichtung von Szenen aus den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen bei Berlin sowie Dachau bei München. Grundlage waren etwa 200 Stunden Material, das er mit kleinen Team an diesen beiden Orten. Loznitsa drehte auch in den Gedenkstätten Flossenbürg, Neuengamme, Bergen-Belsen, Ravensbrück, Mittelbau-Dora und Buchenwald, verwendete letztlich aber nur in Sachsenhausen und Dachau gedrehte Aufnahmen.
AUSTERLITZ wurde 2016 auf dem Filmfestival von Venedig uraufgeführt.
ÜBER SERGEY LOZNITSA: Der in Deutschland lebende ukrainische Regisseur ist einer der erfolgreichsten europäischen Filmemacher. Er arbeitet sowohl dokumentarisch als auch im Spielfilm-Fach. Vier seiner fiktionalen Arbeiten wurden zum Filmfestival von Cannes eingeladen, darunter DONBASS, der 2018 in der Sektion Un Certain Regard den Preis für die Beste Regie erhielt.
ÜBER DEN TITEL DES FILMS:
Der Filmtitel AUSTERLITZ verweist auf den gleichnamigen Roman von G.W. Sebald. Sebald wurde 1944 im Allgäu geboren, lebte aber seit 1966 in Großbritannien. Zeit seines Lebens setzte er sich mit der Schuld seiner Elterngeneration im Nationalsozialismus auseinander. AUSTERLITZ, erschienen 2001, ist Sebalds letzter zu Lebzeiten erschienener Roman. Hauptfigur ist Jacques Austerlitz, der erst gegen Ende seines Lebens beginnt, seine Herkunft zu erforschen: Der - fiktive - Jacques Austerlitz wurde 1934 in Deutschland als Kind jüdischer Eltern geboren und kam 1939 als Vierjähriger mit einem Kindertransport nach Großbritannien. Beide Eltern kommen im Holocaust um. Doch diese Geschichte seiner frühen Kindheit kennt Austerlitz lange Zeit nicht. Für seine Spurensuche spielen stumme, dingliche Zeugen eine große Rolle, so etwa Bahnhöfe. Erst spät in seiner Suche entschlüsselt er die Bedeutung des Londoner Bahnhofs Liverpool Street Station für sein Leben: Hier wurde er als Vierjähriger Pflege-Eltern übergeben.
Zitat aus dem Roman: „Die Geschichten, die an den ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, (werden) von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt.“